Schulung der visuellen Wahrnehmung

Beim Erlernen einer Gebärdensprache kommt es ganz wesentlich darauf an, die Kriterien zu erfassen, die die Bedeutung des Gebärdensymbols festlegen. Das genügt allerdings noch nicht, weil häufig kontextbegleitende Hinweise zu beachten sind, die von entscheidender Bedeutung sein können. Für den Lernenden ist es nun eine schwierige Aufgabe zu entscheiden, ob die wahrnehmbaren Unterschiede zwischen zwei Gebärdendarstellungen Bedeutungsunterschiede begründen oder eher im Rahmen einer bestimmten Ausführungstoleranz unbeabsichtigte individuelle Abweichungen darstellen. Beim Transkribieren oder verfassen von GebärdenSchrifttexten muss der Verfasser bei jedem Symbol eine Vielzahl von Entscheidungen treffen . Diese getroffenen Entscheidungen finden dann in der Festlegung der Schreibweise für bestimmte Gebärdenausführungen ihren Niederschlag. Der kompetente Leser erfasst bei der Analyse eine Vielzahl der erfassten Parameter auf einen Blick. Darin liegt der große Vorteil der GebärdenSchrift. Ein zügiges Lesen von GebärdenSchrifttexten bietet ein außerordentlich interessantes Erlebnis. Vor dem geistigen Auge entstehen Vorstellungen darüber, wie der Inhalt in Gebärdensprache vorgetragen wird. Nicht selten finde ich so einen ganz anderen Zugang zu Inhalten, die mir zuvor schon vertraut waren.

 

Wenn es im Gebärdenkurs darum geht, die visuelle Wahrnehmung zu schulen, handelt es sich vielfach um Entscheidungsaufgaben: eine bestimmte Gebärde oder eine Gebärdenabfolge wird nacheinander wiederholt dargeboten. Aufgabe des Lernenden ist es nun zu entscheiden, ob eine unterschiedliche Gebärdenausführung demonstriert worden ist oder ob eine identische Ausführung versucht wurde.

Ha - "versucht wurde" klingt gut. Tatsächlich ist es nämlich kaum möglich absolut identische Darbietungen zu präsentieren. Das ist um so mehr der Fall, wenn die Präsentation der Gebärde von zwei oder mehr verschiedenen Signern vorgetragen wird.

 

Das fällt aber erst auf, wenn man die Ausführung der Gebärde im Hinblick auf unterschiedliche Kategorien beurteilt.

Da gibt es Parameter, die auch jedem Anfänger sofort ins Auge springen ( einhändig vs. zweihändig, Handform, Ausführungsstelle ..) . Vielfach werden andere Parameter zunächst leicht übersehen - (Handstellung, Bewegungsdynamik, Körperausdruck, Mimik, Blickrichtung ... )

Die Aufgabe des GebärdenSchrift - Schreibers liegt nun darin, ständig Entscheidungen darüber zu treffen, welche Details ausdrücklich aufgeschrieben werden sollen. Häufig kann man auf viele Details getrost verzichten, weil der kompetente und informierte Leser sowieso genügend Vorkenntnisse mitbringt, um das Gemeinte wiederzuerkennen.

Wenn ich Texte für kleine Kinder (3 - 5 Jahre alt) schreibe, verwende ich nicht selten zusätzliche - an Comics erinnernde Ausschmückungen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Lesespaß bei diesem Personenkreis dadurch gesteigert werden kann ;-))

 

Bei der hier anstehenden Aufgabe - "Schulung der visuellen Wahrnehmung" - kommt es auf eine möglichst exakte Erfassung der beobachtbaren Parameter an. Ohne eine schriftliche Grundlage ist diese Aufgabe kaum zu leisten. Beim Betrachten des Videos "ist alles immer so schnell vorbei "! Und wie soll man sich gleichzeitig auf so viele Details konzentrieren ? Wer Interesse hat, sollte mal ein paar Quizfragen zu einer einfachen kurzen Gebärdendarstellung (1 - 3 Gebärdenzeichen) formulieren.

1) Wird die Gebärde einhändig oder zweihändig ausgeführt ?

2) Welche Handform wurde gewählt ?

3) Beschreibe die Ausrichtung der Hand.

4) Beschreibe die Ausführungsstelle.

5) Welches Mundbild (Sprechbewegungen) werden begleitend ausgeführt.

6) Ändert sich die Blickrichtung im Verlauf der Gebärdenausführung ?

7) Beschreibe die Kopfbewegung während der Gebärdenausführung.

8) In welche Richtung (aus der Sicht des Gebärdenden ) wird die Hand bewegt.

9) Beschreibe die Handstellung zu Beginn (Startposition) und am Ende der Gebärde (Endposition)

10) Beschreibe die Funktion der Augenbrauen während der Gebärdensequenz .

11) Beschreibe die Bewegungen des Oberkörpers/ der Schultern während der Ausführung der Gebärde.

12) Beschreibe die Qualität des Körperkontakts .

13) Sind weitere nonmanuelle Hinweise bei der Ausführung der Gebärde (Luft durch Lippen pressen, Backen aufblähen etc) festzustellen ?

14) Beschreibe die Qualität der Bewegungsdynamik . (Ausführung der Gebärde schnell, neutral, betont langsam ... weich, abrupter Stop , ...)

15) Beschreibe das Verhalten der passiven Hand .

16) Lassen sich Feststellungen darüber treffen, ob eine Handform durch die nachfolgenden Anforderungen kontextabhängig angepasst wird ?

(Klingt etwas kompliziert ? Gemeint ist, dass ich im Laufe meiner Transkription immer wieder beobachten konnte, dass viele Gebärdenzeichen in ihrer "Reinform" nicht dargeboten werden, weil das den weichen, flüssigen Gebärdenstrom störend beeinflussen würde. Vergleichbar mit der Koartikulation bei den Hörenden richten viele kompetente Signer - wahrscheinlich unbewusst -ihre Gebärdenausführung so ein, dass die Handform und Bewegungsausführung schon in Abgleich mit den nachfolgenden Gebärdenausführungen auf die dann notwendigen Handformen, Handstellungen, Ausführungsstellen "angepasst" werden. Dies ist insgesamt ein sehr interessantes Thema für weitere Beobachtungen.)

 

15) Welche Unterschiede in der Präsentation zwischen den Ausführungen A) und B) sind wahrscheinlich beabsichtigt und von daher von entscheidender Bedeutung ?

 16) Welche Unterschiede in der Präsentation zwischen den Ausführungen A) und B) sind wahrscheinlich zufällig und von daher unbewusst.

 

Ganz schnell erkennen wir, dass unserer Aufmerksamkeitsspanne enge Grenzen gesetzt sind. Das Computerprogramm "SignWriter 4.4" , das von Richard Gleaves entwickelt wurde, ist eine großartige Hilfe bei der schriftlichen Erfassung des Gebärdenvortrags in GebärdenSchrift.

Das Keyboard bietet eine übersichtliche Zuordnung und den systematischen Aufruf unterschiedlicher Kategorien (Kopf, Augen, Augenbrauen, Stirnfalten, Nase, Mund, Zähne, Zunge, Luft beim Ein - oder Ausatmen, Wangen, Haare, Hals, Schultern, Hüfte, Gliedmaße, Hinterkopfansicht, Draufsicht, Körperdrehung nach links oder rechts, Handformen bei unterschiedlicher Handstellung - und -ausrichtung, Kontaktsymbole, Richtungspfeile für geschwungene, gerade und kreisförmige Bewegungen in sämtliche Richtungen, Symbole für die Dynamik der Ausführung - selbst Anführungszeichen und andere Satzzeichen, die von der Schriftsprache bekannt sind, dienen dazu, übersichtliche und gut lesbare Texte zu verfassen.

 

Ein kompetenter Signer hat mit diesem Programm ein hervorragendes Werkzeug, um Dokumente zu erstellen, die den Gebärdensprachvortrag in einer visuellen Weise abbilden, wie es meiner Meinung nach von keinem anderen Medium geleistet werden kann.

Nun liegt der Gebärdenvortrag - einem Notenblatt vergleichbar - schwarz auf weiß vor uns. Wir können mit den Augen hin - und herspringen. Im Gegensatz zur Videodarstellung bleibt die Darstellung verfügbar. Einem Musiker vergleichbar, der anhand der Notendarstellung einen Klangeindruck von dem vorliegenden Stück gewinnt, "sieht" der kompetente GebärdenSchriftleser beim Studium der GebärdenSchriftdokumente eine Art "Gebärdenvideo" . Dass bei einer Transkription von Gebärdensprachpoesie auch GebärdenSchriftdokumente mit hohem ästhetischen Wert entstehen, versteht sich von selbst.

Hier bietet sich ein ganz spannendes Betätigungsfeld für kompetente Signer : Erstellen von Gebärdensprach-Texten.  

weiter